Eine Verkehrspolitik für alle!

23.04.2024

Resolution verabschiedet an der Delegiertenversammlung der JUSO Schweiz vom 21. April 2024 in Frauenfeld

Die Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, ist ein zentrales politisches Thema, was durch den Druck, den Lobbys aus verschiedenen Lagern ausüben, deutlich wird. Dies zeigte sich zuletzt beim Referendum gegen den Autobahn-Bauwahn. In der Schweiz arbeiten derzeit 71% der Bevölkerung außerhalb ihres Wohnortes.[1]Dieser Lebensstil hat Auswirkungen: Im Jahr 2021 entsprachen die Ausgaben für die Mobilität fast 7 % der Privathaushaltseinkommen.[2]

Die Einreichung der Initiative für einen kostenlosen öffentlichen Verkehr in Genf im Jahr 2005 zeigt: die Herausforderungen der Mobilität sind seit langem ein Anliegen. Eine Reihe von Initiativen wurden in verschiedenen Kantonen und Städten ab den 2020er Jahren lanciert und eingereicht.

Diese Initiativen wurden vom Bundesgericht für ungültig erklärt. Laut dem Bundesgericht steht nämlich der Artikel 81a Absatz 2, welcher vorschreibt, dass «Die Kosten des öffentlichen Verkehrs [zu einem angemessenen Teil durch die von den Nutzerinnen und Nutzern bezahlten Preise gedeckt werden.]», in Konflikt mit gratis-ÖV.

Dennoch haben sich mehrere Umsetzungen von kostenlosem Transport bewährt. Eines der am besten untersuchten Beispiele ist die Stadt Dünkirchen in Frankreich, die 2018 eine vollständige Gratisnutzung[3] ihres Busnetzes eingeführt hat, oder auch Luxemburg, wo ab 2020 landesweit Gratisfahrten eingeführt wurden.

Die Argumente für den gratis ÖV haben einen ökologischen und einen sozialen Aspekt.

Ökologisches Argument

Der Verkehr verursacht 32,9 % der inländischen Treibhausgasemissionen.[4]

Befürworter*innen des kostenlosen öffentlichen Verkehrs argumentieren oft mit der Verlagerung des Verkehrs vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel, wenn der Verkehr kostenlos ist. Dies ist tatsächlich bis zu einem gewissen Grad zu beobachten, auch wenn es an Daten mangelt, ebenso wie eine erhebliche Verlagerung vom Fuss- und Radverkehr auf öffentliche Verkehrsmittel. Das Beispiel Dünkirchen hat gezeigt, dass der Anstieg der Fahrgastzahlen bei kostenlosen öffentlichen Verkehrsmitteln wesentlich höher ist als der Rückgang des Autoverkehrs. Dieser zusätzliche Verkehr verursacht auch Emissionen.

Eine Verlagerung der Mobilität auf eine weniger umweltschädliche Infrastruktur kann nicht nur durch Anreize wie kostenlose Fahrten erfolgen. Verbindliche Maßnahmen, wie eine Begrenzung der Parkplätze, funktionieren besser. Trotzdem sind diese Anreize notwendig, um die Bevölkerung einerseits dazu zu bringen, den Abbau des Fahrzeugbestands zu akzeptieren und um ihn andererseits für Menschen, die für ihre Arbeit auf ihr Auto angewiesen sind, überhaupt erst möglich zu machen. Im Hinblick auf die Verringerung des Autoverkehrs muss die Anbindung der Randregionen und der Ballungsräume deutlich verbessert werden.

Soziales Argument

In einer Gesellschaft, in der Mobilität unerlässlich ist, um zur Arbeit zu gehen, Freizeitaktivitäten nachzugehen, Verwandte zu besuchen und sich zu bilden, muss Mobilität ein Grundrecht sein. Der derzeitige Zugang zu Mobilität ohne progressive Preise ist unsozial und begünstigt wohlhabendere Menschen, während er Menschen mit wenig Geld ausschliesst. Ein Teil der Bevölkerung wird durch die aktuellen ÖV-Preise in der Teilnahme am öffentlichen Leben eingeschränkt. Dieser Teil der Bevölkerung kann sich nur die notwendigste Mobilität leisten und hat in vielen Fällen keine andere Wahl als das Auto.

Eine politische Entscheidung

Die Einführung des Gratis-ÖV erfordert, dass das von den ehemaligen staatlichen Betrieben angewandte Rentabilitätsprinzip in Frage gestellt wird. Derzeit muss sich der Fernverkehr grösstenteils durch den Verkauf von Fahrkarten selbst finanzieren und wird nur indirekt von der öffentlichen Hand unterstützt. Dies darf so nicht weitergehen! Mobilität ist ein Grundbedürfnis und muss zu einer echten öffentlichen Dienstleistung werden.

Es ist klar, dass dies aufgrund entgangener Einnahmen[5] und wegen des Ausbaus des Netzes Kosten verursachen wird.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Kosten zu decken, die über den Rahmen dieser Resolution hinausgehen. Beispielsweise könnten die Einnahmen aus der Initiative für eine Zukunft, die auf durchschnittlich 6 Milliarden pro Jahr geschätzt wird, die entgangenen Gewinne der SBB und einen Teil der Kosten für den Ausbau der Infrastruktur decken.

Die zusätzlichen Kosten müssten wahrscheinlich teilweise durch höhere Steuereinnahmen gedeckt werden, wie die Umsetzung in der estnischen Hauptstadt Tallinn zeigt, wo die Anzahl Steuerzahler*innen nach der Einführung des kostenlosen öffentlichen Verkehrs deutlich gestiegen ist. [6] Ein Anstieg des verfügbaren Einkommens von Menschen mit niedrigerem Einkommen bedeutet auch, dass Geld direkt in die Wirtschaft zurückfließt, was auch den Steuereinnahmen zugutekommt.

Arbeitsplätze sichern

Im Jahr 2023 arbeiten 6 % der Angestellten der SBB, die gemeinhin als Schaffner*innen bezeichnet werden, in der "Kundenbegleitung". Das entspricht 2204 Vollzeitstellen im Jahr 2023[7]. Die Aufgaben dieser Angestellten sind nicht auf die Kontrolle von Fahrkarten beschränkt und sollten auch weiterhin bestehen bleiben.

Mit der kostenlosen Nutzung wird ein massiver Ausbau des Netzes erforderlich sein, um der steigenden Anzahl der Fahrgäst*innen gerecht zu werden, sodass die Arbeitsplätze erhalten bleiben können, um die zusätzliche Nachfrage zu befriedigen.

Das Problem der Mobilität geht über den Verkehr hinaus

Schliesslich ist Mobilität keine unvermeidbare Naturgegebenheit. Sie ist das Ergebnis einer aktiven Arbeits-, Wohnungs- und Stadtplanungspolitik, die Menschen, insbesondere Arbeiter*innen, dazu zwingt, große Entfernungen zurückzulegen. Arbeiter*innen in prekärer finanzieller Situation werden durch hohe Mietpreise aus den Innenstädten verdrängt, die Suburbanisierung verstärkt die Abhängigkeit vom Auto in den Ballungsräumen und die fehlende Infrastruktur macht die sanfte Mobilität gefährlich. Es braucht eine systemische Veränderung, Mobilität darf nicht mehr Grund für Leid sein.

.... Deshalb fordern wir

  • Die Streichung von Artikel 81a, Absatz 2 aus der Bundesverfassung;
  • Die Einführung des Gratisverkehrs auf allen öffentlichen Verkehrsnetzen der Schweiz;
  • Den massiven Ausbau des ÖV-Netzes;
  • Den Erhalt von allen Arbeitsplätzen im öffentlichen Verkehr;
  • Eine Wohnungspolitik, die den Pendler*innenverkehr beschränkt.

[1] Pendler*innen, BfS : https://www.bfs.admin.ch/bfs/fr/home/statistiques/mobilite-transports/transport-personnes/pendularite.html

[2] Einkommen und Ausgaben Haushalte, BfS: https://www.bfs.admin.ch/bfs/fr/home/statistiques/situation-economique-sociale-population/revenus-consommation-et-fortune/budget-des-menages.html

[3] text

[4] text

[5] Compte de résultat, CFF : faits et chiffres : https://reporting.sbb.ch/fr/finances?highlighted=79f836a62c4c7f1136b6ed66701cd07d&years=1,4,5,6,7&scroll=609

[6] Calnibalosky Julie, KORSU Emre. 2022. Évolution du rapport des Dunkerquois à la mobilité automobile (2018-2022). Étude des effets de la gratuité des transports sur les comportements de mobilité, 95 pages. En ligne.

[7] Personnel. CFF : faits et chiffres : https://reporting.sbb.ch/fr/personnel?highlighted=43add776eba65830521fe16374d25917&years=1,4,5,6,7&scroll=0